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Eine sitzende Gesellschaft

Aktualisiert: 2. März 2021


Der Mensch hat sich vom Homo erectus zum Homo sedens entwickelt. Was lange den Mächtigen vorbehalten war, tun heute alle. Wie man richtig sitzt, bleibt umstritten. Heute sollen wir es dynamisch tun. Eine Skizze der Sitzkultur.

Ein leerer Stuhl stand in Rom. Der alte Papst war aufgestanden, der Nachfolger hatte sich noch nicht gesetzt. Sedisvakanz heißt der Zustand. Mächtige Menschen sitzen, auf dem heiligen Stuhl, früher auf dem Thron, heute in Parlamenten, Aufsichtsräten, Chefsesseln. Sie sind erster Vorsitzender oder besetzen einen Lehrstuhl. Manche kleben an ihren Stühlen, und die Konkurrenz beginnt, am Stuhlbein zu sägen.

Angestellte sitzen im Schnitt 55.000 Stunden

Wenn Macht schon etymologisch an eine bestimmte Körperhaltung geknüpft ist, kann man schwer von ihr lassen, selbst wenn eine Armada aus Medizinern und Ergonomieberatern vor ihr warnt. Das Leben, ein Sitzmarathon: Von der Bank am Frühstückstisch fallen wir direkt in den Autositz oder kämpfen in Bus und Bahn um einen Sitzplatz. Kurz darauf lassen wir uns abermals nieder, im Büro, an der Werkbank, der Kasse, auf dem Bock eines Lkw oder Gabelstaplers. Zwischendurch lockt der Kantinenstuhl. Im Schnitt ergibt das 55.000 Stunden, die Angestellte im Laufe ihres Lebens im Sitzen verbringen; 6.500 Stunden sind sie in Bewegung, bloß 3.000 verbringen sie stehend. Denn auch in der Freizeit locken überall Sitzgelegenheiten, im Café, Restaurant, im Kino, und zu Hause steht das Sofa.

Hartnäckig hat sich das Sitzen in unseren kulturellen Code eingeschrieben, denn in unserer DNA stecke es nicht, sagen Anthropologen. Jäger und Sammler sollen stets in Bewegung gewesen sein, sie kauerten sich höchstens mal hin. Sitzen aber ist Teil des Zivilisierungsprozesses. Vielleicht ist uns die Haltung so teuer, weil sie erkämpft werden musste. Vor Anbruch der Neuzeit waren Sitze bloß für Könige und Kaiser, Bischöfe und Mönche reserviert. Das Bürgertum hat sich das Sitzen erst angeeignet. In evangelischen Kirchen stellte man Bänke für alle auf. Mit wachsender Geschäftstätigkeit von Kaufleuten und Händlern wuchs der Berg an Verwaltungsarbeiten, die in den Kontoren erledigt werden mussten - Sitzen entlastet. „Mit dem Sitzen auf Stühlen geben sich die Bürger eine neue Identität“, schreibt der Kulturwissenschaftler Hajo Eickhoff.

Sitzen ist demokratisiert

Bis ins 20. Jahrhundert wurde Sitzpolitik betrieben: Die schwarze Amerikanerin Rosa Parks wollte ihren Sitzplatz im Bus nicht für einen Weißen räumen, aktivistische Studenten ließen sich zu Sit-ins nieder. Inzwischen ist Sitzen demokratisiert, mit dem Wiener Kaffeehausstuhl brachte Michael Thonet den ersten Stuhl aus Massenproduktion auf den Markt.

Es ist die Kehrseite des Überflusses, der uns zu Sitzmenschen verkümmern ließ. Schon Kleinkinder werden oft zu früh in den Babystuhl gesetzt; die Kleinen sollten sich erst selbst halten können, sagen Mediziner, meist sind sie im sechsten oder siebten Monat so weit. In der Schule werden sie endgültig an die Sitzgesellschaft angepasst.

Womöglich werden sie von dort auf einen Schreibtischstuhl wechseln, die Hälfte der erwerbstätigen Bevölkerung begibt sich heute ins Büro, das nichts anderes als eine Sitzhölle ist, wo der Mensch bis zu 85 Prozent der Arbeitszeit vor seinem Computer kauert und dabei eine Reihe gesundheitlicher Kardinalfehler begeht (siehe „Von Kopf bis Fuß“ unten). Laut Studien klagt ein Großteil der Arbeitnehmer über Schmerzen im unteren Rücken, gefolgt von Leiden im Nacken- und Schulterbereich, Müdigkeit und Kopfschmerzen.

Stehpult entlastet Bandscheibe

Es sind Folgen des vielen und vor allem falschen Sitzens. Allzu bequem hat man es in der Bürowelt. Den Kollegen ruft man an, statt ihn an seinem Arbeitsplatz zu besuchen, zum Drucker rollt man mit dem Stuhl, statt die paar Meter zu gehen. Büromenschen kleben an ihren Stühlen, obwohl sie es längst besser wissen müssten: Wer an einem Stehpult arbeitet, entlastet seine Bandscheibe, wer auf einem Sitzball Platz nimmt, stärkt seine Rückenmuskulatur.

Doch ergonomische Alternativen haben ein Akzeptanzproblem, wie eine Umfrage des Fraunhofer Instituts für Arbeitswissenschaft und Organisation ergeben hat: Nach kurzer Zeit schwindet das Interesse für „Fitballs“ und „Swopper“, der spritzigen Namen zum Trotz. Bisweilen sitzt sich der Mensch selbst im Wege.

Den perfekten Sitz gibt es nicht

Dabei ist die Expertenmeinung, was den perfekten Sitz betrifft, weit weniger orthodox als zu Zeiten der Großeltern, in denen man sich noch kerzengerade auf seinem Stuhl versteifen musste. Und auch weniger radikal, zumindest diesseits des Atlantiks, als es die Sitzkämpfe aus den Vereinigten Staaten vermuten lassen (siehe „Die Außenseiter“). Das ergonomische Gebot: „Die beste Sitzhaltung ist die nächste“, sagt Fabian Günzkofer, der als Ingenieur am Lehrstuhl (sic!) für Ergonomie der TU München forscht. Niemand müsse acht Stunden auf einem Sitzball verharren, Abwechslung zähle.

Den perfekten Sitz gibt es nicht, heute ist „dynamisches Sitzen“ angesagt. Sitzen - und dennoch in Bewegung bleiben: Ein Katzenbuckel ist okay, wenn man sich später wieder gerade hält. Sogar herumlümmeln geht in Ordnung, Füße auf den Tisch, Rücken nach hinten - die lässige Haltung entlastet die Bandscheibe, nur Liegen ist schonender. Solche Befunde würde sicherlich auch die Sitzrevolutionäre von einst goutieren. Wenn von der Sekretärin bis zum Abteilungsleiter alle so sitzen wie der Chef, ist ihre Utopie verwirklicht.


von FAZ


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